Betrunkener Philosoph (2021)
Es ist Mai, es regnet, es ist schon dunkel in den Straßen und kälter, als es sein sollte. Trotzdem fühlt sich die Atmosphäre wie eine heiße Sommernacht an. Lachend machen Julia, meine Mutter und ich uns auf den Heimweg. Das Laubdach einer Kastanienallee schützt uns vor dem Regen, als ein Fahrradfahrer an uns vorbeifährt und breit grinst. Er wird langsamer und lallt: „Das Leben kann so schön sein!“ Ich antworte, „Ja“, und freue mich, dass der Fremde den Abend ebenfalls genießt. Er ergänzt allerdings: „Ist es aber nicht!“ und ich antworte wieder mit „Ja“ und lache über seine philosophischen Künste. Er lacht auch und sagt: „Gute Antwort.“ Meine Mutter erklärt: „Meine Tochter kennt sich als Philosophin aus!“, ich murmle nur leise vor mich hin: „Der Philosoph ist hier eher der Mann auf dem Fahrrad.“
Der vermutlich Betrunkene fährt weiter und ich lache immer noch über seine eigentlich traurige Aussage. Wir schauen ihm nach und beobachten, wie er mit seinen Händen gestikuliert, als rezitierte er Gedichte. Die Entfernung macht es uns nun jedoch unmöglich, zu verstehen, was er diesmal zu sagen hat. Einhändig macht er eine scharfe Kurve und verschwindet in der Dunkelheit einer der fünf sich kreuzenden Straßen.
Luna Khan, Q1