Zeitzeugin Eva Szepesi (91) zu Besuch an der Bettinaschule: „Ihr habt jetzt die Verantwortung.“
„Ich habe gewartet, lange, fast siebzehn Jahre, bis ich es mit eigenen Augen gesehen habe, dass meine Mutter und mein Bruder einen Sommer vor mir in Auschwitz waren. Meine Mutter hat es nicht mehr geschafft, nachzukommen. Sie sind mit dem letzten Transport aus Ungarn deportiert worden“, so beendet Eva Szepesi ihre unglaubliche Erzählung. In der Aula der Bettinaschule herrscht Stille. Nachdenkliche, schockierte, intensive Stille, die über den fast zweihundert anwesenden Schülerinnen und Schülern liegt. Mehr als eine Stunde hat die Holocaust-Überlebende an diesem Freitagmittag, dem 8. März 2024, aus ihren Büchern vorgelesen und von ihrem Schicksal berichtet.
Sie wurde in Budapest in Ungarn geboren und hatte bis zu ihrem sechsten Lebensjahr eine glückliche Kindheit. Bis sich auch in Ungarn der Antisemitismus in Form von Diskriminierungen und Ausgrenzungen der Juden im Alltag äußerte. Eva Szepesi wurde als jüdisches Kind vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, indem sie unter anderem nicht ins Schwimmbad oder ins Kino gehen durfte. Sie erinnert sich noch an die wachsende Unruhe, die sie spürte, als die Deutschen am 19. März 1944 Ungarn besetzten. „Dann ging alles Schlag auf Schlag“, berichtet die 91-jährige, „Ab dem 5. April waren wir verpflichtet, den gelben Stern zu tragen. Ich ging nicht mehr zur Schule und verließ kaum noch das Haus.“ Bald darauf sollte Eva Szepesi mit ihrer Tante und einem ihr unbekannten Mann über die Grenze in die Slowakei fliehen. Als sie sich am Bahnhof von ihrer in Tränen aufgelösten Mutter verabschieden musste, wusste sie nicht, dass sie einander nie wieder sehen würden. Mit dem Zug fuhren sie zu einem kleinen Ort, nahe der ungarisch-slowakischen Grenze. Von dort ging die Flucht in der Nacht weiter. „Wir liefen ohne Pause bis zum Morgengrauen. Irgendwann in der Nacht mussten wir die Grenze überschritten haben, denn in der ersten Helligkeit erreichten wir ein kleines slowakisches Dorf.“ Doch auch hier konnten sie nicht bleiben. Nach fast elf Stunden ununterbrochenen Fußmarsches erreichten sie ihr Ziel, das Krankenhaus der Stadt. Am Tag darauf, nachdem sie sich von ihrer Tante verabschieden musste, sollte die damals elfjährige Eva Szepesi zu einer Familie gebracht werden, die sie aufnehmen würde. „Es war ein furchtbarer Gedanke für mich, dass meine Tante nicht mitkommen würde“, erzählt sie, „Nach der anstrengenden und lebensgefährlichen Flucht über die Grenze, verließ mich auch noch meine Tante, nachdem sie mich fremden Menschen übergeben hatte.“
Frau Szepesi lebte nach und nach bei verschiedenen Familien, unter anderem auch bei zwei älteren Schwestern, die dem Mädchen zum Trost oft Geschichten erzählten. Obwohl sie sich dort schnell einlebte und sich bald wie zu Hause fühlte, wartete sie täglich auf ein Lebenszeichen ihrer Mutter oder ihrer Tante. Die Erwachsenen zeigten sich in der Anwesenheit des Mädchens jedoch zurückhaltend, wenn sich die Gespräche schwierigen Themen zuwandten. Schließlich, in einer Nacht im September, wurde Eva Szepesi und die beiden Schwestern von Männern, die laut an ihre Tür klopften, befohlen, ihre wichtigsten Sachen zusammenzupacken und die Wohnung zu verlassen. Nachdem ihnen der Wohnungsschüssel entrissen worden war, wurden die beiden Frauen und Eva zusammen mit anderen Menschen in einem alten Bus zu einem Altersheim transportiert. „Jeden Tag wurden Namen vorgelesen und diese Menschen wurden dann mit Transportern weggebracht. Meine zwei Tanten mussten sich am dritten Tag aufstellen. Obwohl ich wollte, durfte ich nicht mit ihnen gehen.“ Mit dem allerletzten Transport wurde Frau Szepesi schließlich in ein Sammellager nach Sered` gebracht. Von dort ging es mittels eines Viehwagens weiter in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Eva Szepesi berichtet von der schrecklichen Fahrt, bei der sie mit vielen anderen Mitgefangenen unter Hunger und bei knapper Luft auf dem Boden kauern musste. „Mit der Zeit verbreitete sich ein unerträglicher Gestank in dem geschlossenen Waggon. Einige Leute mussten sich übergeben“, erzählt sie. Am 2. November 1944 kam die damals zwölfjährige Eva in Auschwitz an. Ihr und den anderen Menschen wurde von deutschen SS-Männern befohlen, sich auszuziehen und alle persönlichen Gegenstände abzugeben. Die blaue, selbst gestrickte Jacke von ihrer Mutter, die dem Mädchen die ganze Fahrt über Trost gespendet hatte, wurde von dem Fuß einer Aufseherin grob weggestoßen und ihre geliebten Zöpfe wurden abgeschnitten. Die Menschen wurden trotz der Kälte gezwungen, Häftlingskleidung und grobe Holzpantinen anzuziehen. Bei der Registrierung gab eine slowakische Aufseherin Eva Szepesi den Hinweis, sich als 16-Jährige auszugeben. Das Mädchen befolgte den Rat verzweifelt und entging so einer sofortigen Ermordung durch Gas, denn alle jüngeren Häftlinge wurden als arbeitsunfähig eingestuft. Kurz darauf wurde ihr eine Häftlingsnummer auf den linken Arm tätowiert: A26877.
„Die Tage und Nächte in Auschwitz waren eine nicht enden wollende Qual“, berichtet Frau Szepesi, „Der Hunger und die Kälte waren unerträglich.“ Die Lagerhäftlinge mussten sich morgens und abends in der Kälte zum Zählappell aufstellen und Misshandlungen gab es täglich. Auch mühselige, schwere Arbeiten sowie das Säubern von Waffen und Munition mussten sie erledigen. Eva Szepesi ging es mit der Zeit immer schlechter, sie magerte ab und nahm kaum noch wahr, was um sie herum geschah. Ende Januar 1945 trieben die Deutschen alle Häftlinge zu Todesmärschen zusammen. Eva wurde nicht mitgenommen, da sie bereits für tot gehalten wurde. „Niemand kümmerte sich um uns Zurückgebliebene. Die Toten wurden nicht begraben, die Todkranken sich selbst überlassen. Wir waren weder in der Lage aufzustehen, noch hatten wir etwas zu essen oder zu trinken.“ Frau Szepesi erinnert sich nicht mehr daran, wie lange sie in einem bewusstlosen Zustand dalag, bis ihr jemand zu Hilfe kam. Es war der 27. Januar 1945 und russische Soldaten befreiten Auschwitz. Die Überlebenden wurden in den folgenden Wochen versorgt, auch Eva Szepesi kam langsam wieder etwas zu Kräften. Als die Menschen in besserem Gesundheitszustand waren, wurden sie in Sammellager gebracht, wo Vertreter von Hilfsorganisationen auf sie warteten. Am 18. September 1945 kehrte Frau Szepesi mit damals dreizehn Jahren nach Budapest zurück, wo ihr Onkel sie erwartete. Das Mädchen hoffte auf ein Wiedersehen mit ihrer Mutter. „Mein Onkel hat es verstanden. Er hat vorgeschlagen, dass wir auf weitere Transporter warten werden.“ Doch ihre Mutter und ihren Bruder sah Eva Szepesi nicht wieder. Erst siebzehn Jahre später erfuhr sie durch ein altes Dokument, dass beide einen Sommer vor ihr in Auschwitz ermordet wurden.
Zurück in der Aula der Bettinaschule: Eine lange Zeit spricht niemand. Kein Laut stört die intensive Stille, sie gibt allen Anwesenden Raum zum Verarbeiten des eben Gehörten. Schließlich meldet sich Frau Görny zu Wort, die die ganze Zeit über neben Frau Szepesi gesessen hat. Eine Schülerin aus ihrer Klasse, Neele Göbel (7b), hat es möglich gemacht, die Holocaust-Überlebende an die Schule einzuladen. Frau Görny bedankt sich für alles, was die 91-Jährige berichtet und aus ihren Büchern vorgelesen hat und fragt nach, ob es möglich wäre, dass die Schüler*innen einige Fragen stellen. Frau Szepesi stimmt zu. Jemand fragt, wie es ihr möglich war, all das zu verarbeiten. Sie erzählt, dass sie fünfzig Jahre lang nicht über ihre Erlebnisse gesprochen hat. Ihre Töchter ermutigten sie, zu einer Gedenkveranstaltung am 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu gehen. Dort sprach Eva Szepesi zum ersten Mal über ihre Zeit im Konzentrationslager. Dieses Gespräch inspirierte sie dazu, sich als Zeitzeugin zu engagieren. Heute lebt sie in Frankfurt am Main und berichtet an Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen von ihrer unglaublichen Lebensgeschichte. Auf die Frage, was man tun kann, damit sich so etwas nicht wiederholt, meint Eva Szepesi: „Ihr könnt nichts dafür, was damals geschehen ist; ihr habt nur die Verantwortung, dass so etwas niemals wieder geschieht. Wenn ihr Ausgrenzungen oder Mobbing bemerkt, dann tretet dagegen an. Hört nicht immer darauf, was euch erzählt wird, denkt immer vorher noch einmal alleine nach. Die Shoah hat nicht mit Auschwitz begonnen, sondern mit Worten, mit Wegschauen und mit Schweigen. Ihr und eure Kinder sollt so etwas niemals erleben müssen.“
von Lea Hassel, 8b