Zur Glorifizierung mentaler Krankheiten auf Social Media
Der folgende Artikel behandelt sensitive Themen wie Depression und Suizid.
In eine Generation hineingeboren zu werden, zu deren Lebenszeit das erste IPhone entwickelt wurde und Chat-GPT, die Software, die einem in Sekunden einen wissenschaftlichen Artikel über Quantenphysik schreiben kann, hat seine Folgen. “Generation Z” wächst und entwickelt sich im Zeitalter des (Klima-)Wandels, der Inflation, von COVID-19, der sozialen Instabilität, der Flüchtlingskrise, sie leidet unter einem veralteten Schulsystem und vor allem: unter Einsamkeit.
Die Zukunft ist unsicher, ob der Planet schon vor oder erst nach meinem vierzigsten Geburtstag in Schutt und Asche liegt, ist unklar. Ob die Erde genug Platz für uns alle hat, ist unklar, ob auch nur die Hälfte von uns später einmal in einer schönen Wohnung leben darf, ist unklar. Super, da ist meine Laune doch gleich viel besser. Und dann ist da eben noch das Internet. Unendliche Möglichkeiten, die nur einen Klick entfernt sind, Welten, die so viel schöner, besser und friedlicher sind als unsere Realität. Wie einfach es doch ist, sich am Bildschirm zu verlieren. Dort gibt es alles, was das Herz begehrt, Spaß, Trauer, Poesie, Kunst, Sport, „endless entertainment“, Verbrechen, „rabbit holes“, TrueCrime, Abzocke, das Dark Net. Die Gefahren des Internets sind bekannt. Schiefe Körperideale, das perfekte Influencerleben, der gesunde Lifestyle, bei dem die schlechten Tage und das gesunde Chaos hinter der Kamera versteckt werden. Wenn dein Leben nicht “pinterest worthy” ist, oder einer ganz bestimmten “aesthetic” entspricht, hast du irgendwas falsch gemacht.
Das Gefühl einer Generation
Meine Generation ist chronisch online, chronisch schlaflos, chronisch gestresst. “Gen Z” ist statistisch gesehen die depressivste Generation seit langem. Therapieplätze sind eine absolute Rarität. Während der COVID-19 Pandemie stiegen die weltweiten Fälle von Depression und Angstzuständen um circa25%, wobei bei jüngeren Generationen ein stärkerer Zuwachs festzustellen war, als bei älteren. Ohne einen Menschen zum Reden, flüchten sich viele junge Leute ins Internet, auf der Suche nach anderen, die dieselben Erfahrungen gemacht haben oder machen, wie sie. An einen Ort, an dem sie verstanden werden, und an dem sie Gefühle teilen können. An einen Ort, an dem die Probleme zur Norm geworden sind. Wo sie beinahe schon gepriesen werden. Wie schon so oft zuvor in der Menschheitsgeschichte können sich Gruppen mit ähnlichen Zielen oder “mindsets” gegenseitig hochschaukeln, bis es zu extremen Ausmaßen kommt (z.B. Jonestown, Columbine Shooting).
Ein Blick in die Vergangenheit: Als sich im neunzehnten Jahrhundert die Tuberkulose (auch bekannt als Schwindsucht) ihren Weg durch Europa bahnteund viele Menschenleben mit sich riss, wurde es, vor allem in der Kunst, zu einem Trend, die Krankheit zu romantisieren. Das stille Leiden der Erkrankten war nichts Abstoßendes, sondern etwas Friedliches, eine regelrecht “feminine” Art die Welt zu verlassen, leise und ohne jemanden zu stören. Viele Maler ließen sich von dieser Art des Sterbens inspirieren und hielten es in ihren Gemälden fest (z. B. das Gemälde “Beata Beatrix” von Dante Gabriel Rossetti, auf dem er seine Frau als einen Charakter aus dem Gedicht “La Vita Nuova” inszeniert, oder das Bild “Fading Away” von Henry Robinson, auf dem sehr direkt der Tod einer jungen Frau dargestellt wird). Aus der Krankheit entsprang sogar ein neuer Modetrend; rote Wangen und ein fragiler, zerbrechlicher, zarter Körper waren die höchste Form der Schönheit. Dichter, wie z.B. Edgar Allan Poe, thematisierten die Krankheit in Gedichten, Kurzgeschichten und Balladen.
Zurück in der Gegenwart: Und ganz nach dem Motto “history repeats itself” finden wir heutzutage ganz ähnliche Inszenierungen mit Erkrankungen, wie Depressionen, Angstzuständen und unverarbeitetem Kindheitstrauma.
Hier lässt sich nebenbei auch ein Muster erkennen, denn ganz ähnlich wie vor 150 Jahren spielt das Leiden der jungen Frau eine große Rolle. Marilyn Monroe, Princess Diana oder Britney Spears sind nur einige der Frauen, deren Lebensumstände und/oder Tod zu einer Art grauenhaften Faszination in der heutigen „pop culture“ geworden sind. Das Leiden der Ikone sozusagen. Die Glorifizierung einer schönen, femininen und selbstlosen Frau, die sich, während sie schweigend ihr Leid durchlebt, von nichts und niemandem etwas anhaben lässt und keinem zur Last fällt. Das ist allerdings ein anderes Thema.
Vor allem Social Media Plattformen wie TikTok oder Instagram werden oft zum Luftablassen genutzt, kurze Videos oder posts, in denen die eigenen Gedanken und Gefühle fremden Augen und Ohren anvertraut werden. Es ist viel unpersönlicher und einfacher, als sich mit einer realen und bekannten Person von Angesicht zu Angesicht zu treffen und sich auszusprechen. Zudem findet man online Zuspruch von Personen mit ähnlichen Problemen oder Sorgen; man ist also (vermeintlich) nicht allein, fühlt sich verstanden und muss sich danach nicht mit anstrengenden Rückfragen oder besorgten Blickenbeschäftigen. Es ist also in gewisser Form eine Art der Selbsttherapie, ähnlich wie Tagebuch schreiben, nur dass man sein Innerstes nicht einfach so ins Leere der Buchseiten schreit, denn auf Social Media antwortet die Leere. Doch dadurch, dass ein Haufen Menschen mit ähnlichen Problemen zusammenkommen, meist ohne, dass ein Außenstehender ihnen den Ernst der Lage aufzeigt, werden die Probleme „normalisiert“. Und dann ist es plötzlich nichts Schlimmes mehr, sondern etwas Elegantes, das stumme Leiden wird wieder einmal romantisiert.
Das Phänomen “Tod” ist schon seit langem ein glorifizierter Abschnitt im Leben eines Menschen, sei es der Tod eines geliebten Mitmenschen oder der eigene. Romeo und Julia, Titanic und die gesamte griechische Mythologie – in allen Beispielen ist der Tod etwas Tragisches, ein Zeichen ewiger Liebe und Hingabe oder ein Neuanfang. Soweit zur Literatur und Poesie, kritisch wird es allerdings dann, wenn der Tod im echten Leben verharmlost wird, wenn das Thema Suizid an Gewicht verliert, denn wenn alle um einen herum in gewissem Sinne kein Problem damit haben, dann scheint es ja auch nicht so schwerwiegend zu sein.
Und tatsächlich führt diese Romantisierung auch wieder zu Trends, wie zum Beispiel dem “crying girl make-up“.
Warum all das gefährlich ist, brauche ich, glaube ich, nicht zu erklären. Eine Gruppe Menschen ohne Ventil, die sich gegenseitig eventuell mehr triggern als zu helfen, Menschen, die allein, einsam, gestresst, müde und ausgepowert sind, die vergeblich auf der Suche nach innerem Frieden sind und ihn nicht finden. Viele Menschen, die dringend Therapie bräuchten, oder einfach nur ein offenes Ohr und Unterstützung von Freunden oder Familie. Leider gibt es für dieses Problem keine wirkliche Lösung, außer, alle Inhalte offline zu nehmen, die Depressionen und ähnliches verharmlosen, sei es, um Trauma zu verarbeiten, Hilfe zu finden oder Klicks zu bekommen.
Mentale Krankheiten sind nichts, was zu romantisieren oder glorifizieren wäre! Durch eine Verharmlosung unterschätzen Betroffene den Ernst der Lage und suchen sich keine Hilfe und auch umstehende Personen können den Zustand einer Person nicht mehr wirklich einschätzen und helfen. Depressionen sind auch kein neuer Trend, sie sind nichts Erstrebenswertes und nichts Schönes und darüber sollte sich jeder im Klaren sein.
Es gibt Hilfe – Infos zu Anlaufstellen in der Schule oder außerhalb
Sich mit jemandem auszusprechen kann immer helfen. Möglichkeiten dazu gibt es dienstags im dritten Stock, dort könt ihr ein psychologisches Gespräch mit Psycholog:innen vom Anna-Freud-Institut führen. Sonst könnt ihr auch immer zur Schulsozialarbeit gehen, die Ansprechpartnerin dafür ist Frau Heimann. Die Hilfe-Hotline „Info-Telefon Depression“ ist erreichbar unter 0800 3344533 und ist offen zu folgenden Zeiten: Mo, Di, Do: 13:00 – 17:00 Uhr Mi, Fr: 08:30 – 12:30 Uhr.
Lilly Altfeld, 9a